Wer will Menschenopfer?
Grausame Menschenopfer wurden und werden zu jeder Zeit und nahezu in allen Kulturen durchgeführt, um ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen. Weniger bekannt ist, dass neuerdings auch bei uns vor Wahlen Menschen geopfert werden. Zum Glück führt diese Art von Menschenopfern nicht zwangsläufig zum Tod des Opfers – obwohl ausgeschlossen, ist es in unserer zunehmend radikalisierten Zeit auch nicht.
Die Christen glauben bis heute daran, dass Jesu sich selbst geopfert und dadurch die Menschheit gerettet hat. So gesehen, könnte man ihn als ersten Wahlkandidaten verstehen. Diese selbstlose und über allen Maßen gemeinschaftliche Tat, muss wohl Vorbild für heutige Volksvertreter sein. Immer wieder hört und liest man davon, wie sich Politikerinnen/Politiker „aufopfern“. Landespolitiker fühlen sich als Opfer der Bundespolitiker, Gemeindepolitiker fühlen sich als Opfer der Landespolitiker. Bundespolitiker finden ihre Peiniger in der EU oder in anderen Ländern. Und alle sind sie Opfer ihres Amtes und opfern sich für ihre Mitmenschen auf.
Da überrascht es nicht, dass selbst Bundespräsident Alexander Van der Bellen von jungen Menschen spricht, die bereit sind Opfer zu bringen, um „für eine wichtige Sache politisch zu kämpfen“. Direkt an die christliche Opfer-Tradition erinnert der Gefühlsausbruch von Kanzler Nehammer bei seiner Staatsansprache in Wels im Jänner dieses Jahres: „Danke, dass du dir das antust lieber Reinhold, im wahrsten Sinn des Wortes. Danke, dass du zur Verfügung stehst.“ Das Opferlamm war in diesem Fall Reinhold Lopatka, der als Spitzenkandidat bei der EU-Wahl, selbstlos zum Opferaltar schreiten wird. Wir, die „Gottheit“, wir Wähler, sollten dieses Opfer gnädig annehmen.
Ganz generell muss ich sagen, es würde mir nicht im Traum einfallen, dass sich ein wildfremder Mensch für mich „opfern“ muss. Die jetzt 16-jährigen Wähler würden wahrscheinlich „du Opfa“ sagen. Sollten wir da nicht schleunigst ein Opferschutzprogramm für Politiker aufstellen? Nein, ich dachte eigentlich immer, Politikerin/Politiker wählen ihren Job zwar aus unterschiedlichen Gründen, jedoch immer freiwillig aus. Schließlich spricht man ja auch von Berufspolitikern und weil sie letztendlich vom Steuerzahler honoriert werden, kann man maximal von einem Arbeitsverhältnis sprechen. Selbst „dienen“ fällt da wohl unter monarchistische Standesdünkel. Warum sich Politiker als Opfer fühlen, oder sich genötigt fühlen, sich aufopfern zu müssen, ist mir schleierhaft. Schließlich sagt ja auch kein Bauarbeiter, „ich opfere mich für den Bauherrn“. Dabei ist dessen Job auch nicht gerade Honigschlecken.
Vielleicht liegt das Opfergefühl bei den Politikern daran, dass sie mit einem Hintern auf zehn Kirchtagen tanzen und Politik machen für sie nur Mittel zum Zweck ist. Bei jemand, der bereits einen Vollzeitjob ausübt, in x-Vereinen/Aufsichtsräten tätig ist, Partner und Familie unter einen Hut bringen muss, kann es schon sein, dass die politische Verantwortung als Nebenjob und als Belastung empfunden wird. Das würde auch erklären, warum manche „Arbeitsleistung“ das Geld nicht wert ist, was es kostet. Fragt sich nur, wer da die richtigen Hebel in Bewegung setzen muss. Vielleicht fangen wir bei der EU-Wahl an. Ein Opferlamm braucht niemand. Aber Politikerinnen/Politiker, die den Job machen, den sie freiwillig gewählt haben und wofür sie bezahlt werden.