Dann hilft nur noch Michael Kohlhaas

Jeder achte Todesfall in der EU ist auf Umweltfaktoren zurückzuführen, beklagte die Juristin und sozialdemokratische Abgeordnete Bettina Vollath 2021 im Europäischen Parlament. Es ging in der Plenarsitzung um eine Verschärfung der Regeln zur Umwelthaftung von Unternehmen. Diese würden nämlich innerhalb und außerhalb Europas Wälder roden, Flüsse versauern und die Luft verpesten, so Vollath unmissverständlich. Deshalb setzte sie sich die Abgeordnete für klare Regeln ein, die Umweltschäden durch Unternehmen verhindern, beheben und bestrafen können. 2024 wurden diese neuen Regeln tatsächlich verabschiedet, wobei sogar der Begriff „Ökozid“ erstmals als Straftat andiskutiert wurde.

Vergleichbar mit dem rechtschaffenden Rosshändler Michael Kohlhaas aus der Heinrich von Kleist-Erzählung, ist der ewige Kampf für die „Naturrechte“ aktueller denn je.
Bild: Peter Baumgartner

Ungeteilte Zustimmung bekam Dr. Vollath für ihre Meinung erwartungsgemäß nicht. Dennoch wurde im April 2024 eine aktualisierte (abgeschwächte) Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt mit einigen Neuerungen veröffentlicht. Man hatte – spät aber doch erkannt, dass die bisher gültigen Regeln nicht ausreichend waren, um die Einhaltung des Umweltschutzrechts in der Union sicherzustellen.  Begründet wurde die neue Richtlinie vom Berichterstatter Antonius Manders damit, dass Umweltverbrechen inzwischen zu den Top-5 der profitabelsten Verbrechen in Europa zählen. Außerdem ist Umweltkriminalität weltweit die vierthäufigste kriminelle Aktivität des organisierten Verbrechens (Eurojust) und nimmt jährlich um bis zu 7 Prozent zu. Um sicher zu gehen, dass die Gesetzgebung diesmal wirksamer sein wird, fordern die EU-Abgeordneten die Mitgliedstaaten auf, deutlich mehr Maßnahmen zu ergreifen als bisher. So sollen Polizisten, Richter und Staatsanwälte strategisch sensibilisiert und geschult werden. Genaue Daten, die die EU-Staaten über Umweltdelikte erheben, sollen dazu beitragen, gezielter gegen diese Probleme vorzugehen. Außerdem sollen Hinweisgeber, die Umweltdelikte melden, in Strafverfahren unterstützt werden. Die Strafverfolgung muss verbessert werden und die Strafhöhe wird deutlich angehoben.

Der Müllhandel führt die meisten Abfälle auf illegalen Mülldeponien, sie landet im Meer, oder werden im Freien verbrannt, kritisiert das UN-Büro für Kriminalitätsbekämpfung (UNODC). Müll verbrennen wird hingegen generell als „legaler Abfallstrom“ bezeichnet. Das ist falsch und in dieser Form ein fataler Beitrag zur Legalisierung der Umweltvergiftung.

Soweit die Theorie. Doch die Erfahrung hat gelehrt, jedes noch so gute Gesetz und gut erdachte Regelung wirkt nur bedingt, weil schon die Beschlussfassung mit gekreuzten Fingern am Rücken passiert und parallel Strukturen geschaffen werden, die automatisch neue Umweltschutzregeln unterlaufen. Nehmen wir beispielsweise das breite Feld rund um das Müllgeschäft. Das beginnt beim Bio-Abfalleimer, geht über die „Gstätten“ bis hin zum Mülltourismus und zur Müll-Mafia. Lauter ungustiöse und höchst gefährliche Geschichten – die von der Öffentlichkeit aber kaum wahrgenommen werden. Warum ist das so? Weil das Interesse der Medien enden wollend ist. Schließlich geht es ja oft um potente Kunden, die nicht vorgeführt werden sollen. Vergleichsweise unwichtige Ereignisse wiederum motivieren zum „Volksaufstand“. Als in Deutschland beispielsweise ein Kinderchor im überschießenden Umweltengagement „Oma ist `ne alte Umweltsau“ sang, gab es einen bundesweiten Medienrummel inklusive Demonstrationen, Gewalt und sogar Morddrohungen. Ein erschreckender Tatsachenbericht der Kriminalpolizei über illegale Mülltransporte auf der Autobahn, lockte jedoch kaum jemand hinter dem Ofen hervor.

Mit gekreuzten Fingern werden eigens aufgestellte Regeln sofort wieder umgangen. In „die Hölle“ kommt man dafür auch deshalb nicht, weil politischer Konsens über diese Praxis besteht. Bild: Peter Baumgartner

Gleichzeitig sind Behörden und Politiker mit den Verbandslobbyisten im Genick sehr erfinderisch, wenn es darum geht, die öffentliche Diskussion in „die richtige Richtung“ zu lenken. Viele Tricks aus der Psychologie und Verhaltensökonomie helfen dabei, das gewünschte Verhalten in der Bevölkerung herbeizuführen. Sehr erfinderisch ist man auch im Erfinden von Normen und Definitionen. Als zum Beispiel klar wurde, dass man nicht mehr einfach alles in irgendeine Schottergrube kippen soll, wurde aus der giftigen „Gsätten“ sprachbereinigt eine „Altlast“. Dort wurde zwar noch ein paar Jahre weiter abgelagert, dann aber amtlich doch verboten und seither gelten viele „Altlasten“ als „saniert“. Was dort im Untergrund passiert, wird dann durch „Zufall“ entdeckt und muss erst „erforscht“ werden. Plötzlich wundert man sich, woher die Chemikalien und Schwermetalle im Wasser oder im Boden herkommen. Mit dem Deponieverbot einher ging auch eine neue, „innovative“ Idee, wie man den wachsenden Müllberg trotzdem loswerden kann. Die „Müllverbrennung“ war geboren. In bestimmten Fällen sagt man „Mitverbrennungsanlage“, was gleichzeitig mit Sprachbereinigung verbunden ist. Jedenfalls ist das was verbrannt wird nicht Müll, sondern heißt jetzt „Altstoffe“, „Ersatzbrennstoffe“ oder wertvoller „Rohstoff“, womit die Müllindustrie plötzlich zum Player im Wettkampf um Rohstoffe wird. Was grob gesagt vorher direkt im Grundwasser versickerte, kommt jetzt beim Kamin heraus und versickert dann im Grundwasser, oder landet in der Asche. Die Industrie freut sich über „Ersatz- und Sekundärbrennstoffe“ und liefert uns dafür das, was nicht mehr verbrannt werden kann, zum Beispiel im Zement beigemischt wieder zurück. Was genau beigemischt wird, weiß man nicht, weil es Betriebsgeheimnis ist. In der Praxis ist es – in Abhängigkeit von der Filterqualität, ein Austausch von mehr oder weniger giftigen Müll in unterschiedlicher Form. Das nennt man ebenfalls sprachbereinigt – „Kreislaufwirtschaft“ oder „Circular economy“. Mit der Größe der Müllerbrennungsanlagen steigt der „Rohstoff“-Bedarf und der ist wiederum nur über den internationalen Handel zu befriedigen. Hier schließt sich der Kreis. Logisch, dass die Industrie „günstige“ Rahmenbedingungen für den Müllhandel fordert, dem die Politik zu folgen hat. Natürlich, man könnte Müllerzeugung einfach verbieten oder wenigstens auf ein absolut notwendiges Maß reduzieren, doch dann würde man zahlreiche Geschäftsmodelle zerstören, die genau von der Müllwirtschaft profitieren. Als ich 1990 im Ostblock einen Firmenchef interviewte und wissen wollte, wie seine Firma mit dem Müll umgeht, erntete ich große Verwunderung. „Welchen Müll? Wir haben keinen Müll“, war die überraschende Antwort. Ältere Semester werden sich noch daran erinnern, wie wenig Verpackungsmüll früher von einem Einkauf übriggeblieben ist. Heute undenkbar!

2024 wurden aus der EU in andere Länder 35,7 Mio. Tonnen Müll exportiert. Importiert wurden 46,7 Mio. Tonnen Müll. Die EU schätzt, dass ein Drittel des Müllhandels illegal stattfindet. Im Februar wurden beispielsweise in Kroatien 13 Personen verhaftet, die Müll aus Italien, Deutschland und Slowenien illegal entsorgt hatten. Der kriminelle Gewinn lag in diesem Fall bei 4 Mio. Euro, berichtet EUROPOL.

Neben der sprachlichen Anpassung an die bevorzugte Wirtschaftspraxis und den damit verbundenen Umweltproblemen, schafft es die Politik und die Wirtschaft ideenreich, legistische Schranken zu umgehen. Ganz aktuell steht die „Abschaffung der Bürokratie“ auf der Agenda der EU und in Österreich sowieso. Sogar ein eigenes Staatssekretariat für „Deregulierung“ wurde mit der neuen Regierung erschaffen. Übersetzt heißt das, vorher mühsam errungene Regeln und Gesetze auf parlamentarischer Ebene, werden flugs als lästige Bürokratie umgedeutet und deren Abbau gefordert. Herauskommen soll dann „abgebaute Hürden“, eine „Verfahrensbeschleunigung“ oder „Verwaltungsvereinfachung“, die nichts anderes im Sinn haben, als im regelfreien Raum ungestraft nach Lust und Laune genau das zu machen, was per Gesetz hätte verboten werden sollen. Die EU sieht Potential, dass man bis Ende 2029 bis zu 35 Prozent Verwaltungsaufwand abbauen kann. Künftig soll in Verwaltungsverfahren auch das Prinzip „Glaubhaftmachung“ gelten. „Wird schon stimmen“, ist dann die Entscheidungsgrundlage in einem Behördenverfahren! Der Druck aus der Wirtschaft ist mittlerweile so groß, dass sich die Regierenden diesen Forderungen nicht mehr widersetzen können und „informieren statt strafen“ sogar ins Regierungsprogramm geschrieben haben. Ein typisches Beispiel ist hier die Regelung zur „Abfallverbringung“ innerhalb und außerhalb der EU. Also der legalisierte grenzüberschreitende Handel mit Müll, von dem angeblich ein Drittel illegal erfolgt. Entsprechende Unionsregeln gibt es bereits seit 1989 und regelmäßige Berichtspflichten sollten den Überblick über die Wirksamkeit der Maßnahmen wahren. Doch schon dabei stellte sich heraus, dass die Mitgliedsländer einen „flexiblen“ Zugang zum Thema haben. Ungenaue Berichte können da schon gravierende Abweichungen beinhalten die letztlich dazu führen, dass sich die EU genau gar kein genaues Bild von der Umweltkriminalität machen kann und auf Schätzungen angewiesen ist. 2024 kommt der Rat der Europäischen Union zur frustrierenden Erkenntnis, dass „die Umweltkriminalität nach wie vor eine der lukrativsten, rechtswidrigen Handlungen in Europa ist.“ Und „es ist unwahrscheinlich, dass das Ausmaß der Bedrohungen mittelfristig abnimmt.“

Als Laie könnte man glauben, bei dem Bild handelt es sich um eine unappetitliche Mülldeponie wo Krähen Plastikabfälle in der Fluss-Au verteilen und giftiges Sickerwasser in das Fließgewässer abläuft. Doch weit gefehlt! Tatsächlich ist es eine amtlich genehmigte Deponie mit Bioabfall, der zur Aufbereitung gelagert wurde.
Bild: Peter Baumgartner

Dass Umweltdelikte oft ungesühnt bleiben, ist der ausgeklügelten Strategie der Täter und einem Gesetzes- und Verordnungswirrwarr zu verdanken, berichtet der Kriminalist Richard Benda. Die enge Verknüpfung des Umweltstrafrechts mit dem Verwaltungsrecht bedingt, dass nur selten kriminalpolizeilich ermittelt und angezeigt wird. Selbst wenn Umweltdelikte überhaupt zur Anzeige kommen, sagt Benda, sorgen politische Interventionen, „nahestehende“ Sachverständige und spezialisierte Anwälte für einen Freispruch. In der Regel bleiben Umweltdelikte schon beim Gewerberecht hängen (Verwaltungsakzessorietät) und dann folgt eine kleine Verwaltungsstrafe, oder – siehe oben, eine „Belehrung statt Strafe“. Prompt kritisierte der Rechnungshof 2024, die Verwaltungsbehörden verhängten im Untersuchungszeitraum teilweise Geldstrafen unter der Mindestgrenze und berücksichtigten bei Wiederholungstätern keinen erschwerenden Tatbestand für die Strafbemessung. Das erklärt auch, warum die Statistik für Umweltdelikte grundlegend falsch ist. In der jährlichen Kriminalstatistik, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, kommen Umweltdelikte überhaupt nicht vor. Erst im Sicherheitsbericht, dessen Veröffentlichung meist sehr lange dauert (aktuell aus 2022) und niemand mehr interessiert, wird auf vereinzelte Umweltdelikte aufmerksam gemacht. Dem steht die Schätzung von OLAF (EU-Amt für Betrugsbekämpfung) gegenüber, wonach allein 30 Prozent der grenzüberschreitenden Mülltransporte illegal sind. Einen weiteren Grund für die Diskrepanz in der öffentlichen Wahrnehmung liefert zum Beispiel der Strafrichter Oliver Scheiber in einem Interview. Die geringe Zahl an Verurteilten wegen Umweltdelikten ist „sicher unangemessen“, sagt er und erinnert an das Görtschitztal (HCB-Desaster), wo die „Strafrechtspraxis zahnlos“ war. Eine Erkenntnis, die nicht auf Österreich beschränkt ist. EUROJUST: Umweltkriminalität nimmt rasch zu und hat ein geringes Aufdeckungsrisiko. Die Vereinten Nationen warnen 2025 vor der Zunahme kontaminierter Industriematerialen, die in die falschen Hände geraten können. 2024 wurden 147 Vorfälle gemeldet. Dabei haben von 145 Staaten nur 35 eine Meldung abgegeben. Bereits ein einziger Fall, in dem nukleares Material in die falschen Hände gerät, könnte ernsthafte globale Risiken darstellen, warnt die UN. Besonders viele Vorfälle (Diebstahl) ereignen sich während des Transports von nuklearem und radioaktivem Material (Quelle: Incident and Trafficking Database (ITDB)).

Die „Verwaltungsakzessorietät“ ist der Nährboden für eine amtlich legitimierte Ökomafia und für den Müllkolonialismus.

Seitens der Politik geht es immer darum, „echtes“ Engagement gegen kriminelle Machenschaften zu demonstrieren. Dafür werden von Politikern schon mal medienwirksam und hemdsärmelig „Außentermine“ wahrgenommen. Doch noch nie wurde es kriminellen Subjekten so leicht gemacht, ihr „Business“ zu verfolgen. Neue Kommunikationsformen tragen wesentlich dazu bei. Besonders in der internationalen Umweltkriminalität. Gleichzeit gab es noch nie so viele „Kümmerer“ die vorgeben, Umweltkriminalität verhindern zu wollen. Alle tragen sie klingende Namen und sind öffentlich wohl bekannt. Schlussendlich geht es immer um die öffentliche Wahrnehmung. Wer es in der Hand hat die öffentliche Wahrnehmung zu steuern, hat Kompetenzen, die weit über die politische Legitimation und fachliche Fähigkeit hinausreichen. Medien und Behörden sind in dieser Gemengelage willfährige Gehilfen („Du bist die Hure der Reichen“). Das ist jetzt zwar keine neue Erkenntnis oder Entwicklung, neu ist nur, dass die Kommunikation auf der kriminellen Ebene höchst professionell geworden ist. Man kann sagen, die kommunikative Professionalität steigt mit dem Gewinn aus der kriminellen Tätigkeit. „Auffliegen“ können in der Praxis nur noch die wirklich dummen Kriminellen. Die, die einfach nur zu blöd sind. Die wirft man dann der Öffentlichkeit zum Fraß vor.

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