Eine vertane Chance
Journalistinnen und Journalisten hängen an seinen Lippen. Nicht weil er viel spricht, sondern weil er viel zu sagen hat. Das ist unter öffentlichen Personen ja nicht gerade häufig anzutreffen. Die Rede ist von Kardinal Christoph Schönborn.
Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit als Erzbischof, durften die Medienvertreterinnen ein letztes Mal zur Audienz antreten und wohlwollend über die Aussagen des Würdenträgers berichten. Diesmal äußerte sich Schönborn sogar abseits seiner Zuständigkeit zur unseligen Pensionsdebatte. Wie er darüber denkt, wollte der Redakteur wissen. Immerhin hat Schönborn das übliche Pensionsalter schon lange überschritten. Und tatsächlich hatte der Kirchenmann eine Meinung zur weltlichen Debatte, die seit Jahren so undifferenziert geführt wird, dass man schon förmlich auf ein Machtwort von himmlischer Stelle gewartet hat. Doch es kam anders. Schönborn stimmte in die undifferenzierte Debatte nahezu mit den gleichen Worten ein, die man landauf und landab von reformwütigen „Experten“ hört. War es die Angst vor hitzköpfigen Politikern, die mit Privilegien Entzug drohen, wenn man nicht ihr Lied singt? Ich weiß es nicht. So kann ich mir nur erklären, dass Alter und Weisheit eben nicht vor Fehleinschätzungen schützen. Erwartet hätte ich mir von einem christlichen Würdenträger, dass er im Zusammenhang mit der Lebensarbeitszeit und Ruhestand zum Beispiel darüber spricht, warum es in manchen Erwerbsbereichen trotz fortschreitender Technologisierung noch immer überproportional viele Arbeitsunfälle und Todesopfer zu beklagen gibt. Man hätte in diesem Zusammenhang vom weitgereisten Kirchenmann auch ein paar kluge Bemerkungen zur modernen Sklaverei in einigen Gewerken erwartet. Oder welche gesellschaftspolitische Bedeutung vitalen Großeltern zukommt. So kam es, wie es kommen musste – die Medienvertreter konnten ein paar Stichworte für den Nachruf sammeln. Zur Lösung aktueller Probleme gab es aus der Ecke des Kirchenmannes keine Beiträge.