AMEN. Franziskus antwortet

Im Juni 2022 wurde in Rom einen Dokumentarfilm über eine Diskussion zwischen Papst Franziskus und zehn jungen Menschen gedreht. Der Film von Jordi Évole und Marius Sánchez kam 2023 beim Steaminganbieter Disney+ auf die Bildschirme und war vor wenigen Tagen auch auf ORF/kreuz und quer zu sehen. Ein bemerkenswert feinfühliger Film, der Spuren hinterlassen hat.

Quelle: Disney+

Die Doku beginnt mit der Fahrt von Papst Franziskus von seiner Residenz im Vatikan zu einem, zunächst unbekannten Treffpunkt in Rom. Franziskus sitzt allein mit seinem Chauffeur im Auto und sie fahren 20 Minuten durch Rom. Dem Papst fällt dabei beiläufig auf, dass Rom eine schmutzige Stadt ist. Doch als wäre er als Tourist hier, meint er an den Chauffeur gerichtet, dass Rom dennoch etwas Besonderes ist. Dann fahren sie schweigsam weiter.

Die Kamera fängt die Situation am Treffpunkt ein, ohne die nähere Umgebung zu beschreiben. Man zeigt nur einen Raum, wo die zehn Personen bereits auf den Papst warten. Es sieht aus, wie ein Fabriksraum oder eine Werkstätte. Der Raum ist zwar hell, aber schmutzig und schmucklos. Die Personen sitzen auf einfachen Stühlen, auf einem Holztisch oder am Boden. Am Fenster steht eine große Blätterpflanze ohne Blüten. An der Wand lehnt eine Pinwand mit irgendwelchen Fotos draufgeklebt. Mitten im Raum steht noch ein etwas bequemerer, hellbrauner Lehnstuhl. Der ist offensichtlich für den Papst bestimmt. Daneben auf einem einfachen Tischchen sind ein Wasserkrug und ein Glas vorbereitet. Irgendwo steht auch noch ein hässlicher grüner Fauteuil herum. Eigentlich, meint man, hätte man einen gemütlicheren Platz für so eine Diskussionsrunde finden können.

Unter den Personen im Raum herrscht eine angespannte, erwartungsvolle, aber durchaus fröhliche Stimmung. Es wird viel gelacht. Man spricht über die Erwartungen und die Nervosität, die jede/jeder verspürt. Ein Teilnehmer meint ehrfürchtig, es ist ja der „Big Boss“ von einer Milliarde Christen, der da gleich auftauchen wird. Die Wichtigkeit der Person Papst ist offensichtlich allen bewusst. Umso erstaunter sind sie, dass das Treffen ganz einfach und ohne Protokoll ablaufen soll. Alle tragen jugendliche Kleidung, kurze Hosen, T-Shirt und die nackten Füße in Sportschuhen. Als ob sie gerade aus der Uni gekommen wären. Man meint eine Gruppe fröhliche Studenteninnen und Studenten zu sehen. Körperliche Beeinträchtigungen sind nicht zu sehen. Es sind eher alles „schöne“ Menschen. Sie kommen aus unterschiedlichen Ländern, haben unterschiedliche Hautfarbe und es sind Christen, nicht Christen, gläubig und nicht gläubig und ein Muslim ist auch dabei. Doch auch diese Unterschiede sind nur optisch wahrnehmbar. Es ist eine Gruppe, wo man sich gerne dazu setzen möchte.

Die Kamera wechselt wieder das Bild. Beim Treffpunkt angekommen, biegt das Auto mit dem Hl. Vater in einer unauffälligen Straße zunächst unvermittelt in eine finstere Einfahrt. Man denkt sofort, hoffentlich ist das keine Entführung. Der Chauffeur und der Papst steigen in einen typischen Lastenaufzug. „Ein Luxusaufzug“, stellt der Papst lächelnd fest. Bei der nächsten Kameraeinstellung betritt der Papst auf seinen Gehstock gestützt den Raum mit den wartenden Menschen. Niemand bewegt sich. Es ist still. Zögernd schaut Franziskus zuerst um die Ecke, bleibt kurz stehen. Hinter ihm stehen vier schwarz gekleidete Männer und man ist beruhigt, der Papst wird gut beschützt. „Ihr seid so still. Ist jemand gestorben“, fragt er nun breit lächelnd. Die verkrampfe Erwartungssituation ist sofort gelöst. Der Papst geht etwas wackelig auf den Stock gestützt zu jeder einzelnen Person hin. Lachend und scherzend begrüßen sie sich. Zwei, drei Frauen geben ihm einen freundschaftlichen Begrüßungskuss auf beide Wangen – nicht ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. „Zwei Küsse macht 50 Pesos“, scherzt der Papst.

Dann lässt sich der Oberhirte in seinen Lehnsessel plumpsen. „Wer fängt an?“ Die Diskussion kommt sofort in Fahrt. Es geht im Gespräch zuerst um ein paar persönliche Fragen an den Papst. Auf seine Gehprobleme angesprochen meint er zum Beispiel tapfer, es sei zwar lästig, aber er könne gehen. Ob er ein Telefon hat und in den sozialen Medien unterwegs ist. Doch dann kommen die jungen Menschen schnell zur Sache. Also so richtig, ohne Vorwarnung und besondere Zurückhaltung. Eine junge, hübsche Frau aus Kolumbien ist Pornodarstellerin und Mutter. Sie erzählt, dass sie mit ihrem „Job“ glücklich ist und warum. Der Senegalese berichtet von seinem kleinen Bruder, der allein mit dem Schlepperboot nach Spanien geflüchtet ist und dort schlimme Sachen erlebt hat. Eine junge Frau aus Peru, eine ehemalige Nonne, ist aus der Kirche ausgetreten, weil sie sich nicht mehr aufgehoben gefühlt hat und Menschenrechtsverletzungen im Kloster erlebt hat. Eine andere Frau aus Ecuador berichtet von schwerem Rassismus in Spanien, der sie krank gemacht hat. Eine Feministin aus Argentinien, die sich auch zur Abtreibung bekennt will wissen, wann es die erste Päpstin geben wird. Celia aus Spanien ist eine nicht pinäre Person und erzählt, dass sie ihre Partnerin auf Tinder gefunden hat. Maria aus Spanien ist bekennende Christin, engagiert sich sehr stark gegen Abtreibung und lehnt Pornografie ab. Victor, der Agnostiker aus Spanien will wissen, warum sich die Leute von der Kirche abwenden. Eine Frau aus den USA mit indischen Wurzeln will wissen, ob der Papst wie sie selber auch Rassismus erfahren hat. Und dann war da noch Juan aus Spanien. Er spricht unter Tränen den Kindesmissbrauch in der Kirche an und trifft damit sichtbar eine offene Wunde beim Papst. Als 11-jähriger war er in einer Opus Dei Schule und wurde dort zwei Jahre lang von einem Lehrer sexuell missbraucht. Seine Eltern hatten damals hilfesuchend an Franziskus geschrieben. Das Antwortschreiben des Papstes hatte der junge Mann dabei und überreichtes es jetzt dem Papst. Hilfe, berichtete der jetzt erwachsene Mann, hat er keine bekommen. Doch der Täter wurde nur milde bestraft und durfte an der gleichen Schule weiterarbeiten.

Das Bild von der lockeren und fröhlichen Studentengruppe wandelte sich innerhalb von Minuten zu einem Abbild menschlichen Leiden. Lockere, heitere und durchwegs glückliche wirkende Menschen, entpuppten sich schlagartig als Versammlung von zehn unterschiedlichen Charakteren, vereint in ihrem individuellen Schmerz, von Ausgrenzung betroffen, missbraucht, unsicher, von Einsamkeit und Schuldzuweisung geprägt. Innerhalb weniger Minuten stürzte der Raum quasi in sich zusammen und man wusste nicht, wen man mehr bemitleiden sollte. Den Papst, auf den im Minuten-Rhythmus die schwierigsten Probleme und Fragen einprasselten, oder die zehn geschundenen Seelen, die auf Antworten hofften. Bemerkenswert war, wie respektvoll die Begegnung trotz unterschiedlichster Meinungen und Empfindungen abgelaufen ist. Ich meine bemerkt zu haben, dass die rechte Stirnader beim Papst im Verlauf der Diskussion etwas angeschwollen ist. Ansonst gab er sich als aufmerksamer Zuhörer und Berater. Niemals als Bekehrer, Besserwisser oder gar als Kritiker. Nur im Fall des missbrauchten Schülers versprach er nochmals nachzuforschen. Auch der Austausch der unterschiedlichen Meinungen unter den jungen Menschen war getragen vom aufmerksamen Zuhören. Zugern hätte man noch eine Nachbetrachtung der Diskussion gesehen. Doch der Eindruck, dass die Diskussion einigen Menschen geholfen hat, war offensichtlich. Offen blieb die Frage, wie es dem Papst hinterher ergangen ist. Wie geht ein einzelner Mensch, in Wahrnehmung seiner Verantwortung, mit so viel Leid um? Dabei war das gerade so viel „Dreck“, wie in eine Stunde passte! Doch dieser Papst ist seit mehr als zehn Jahren tagtäglich mit allen menschlichen Abgründen konfrontiert. Ist das nicht eine unchristliche Zumutung?

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