10. Jubiläum zum HCB-Desaster im Görtschitztal

Eines gleich vorweg. Eine ausgelassene Erinnerungsfeier mit Torte und Sekt wird es aus diesem Anlass ziemlich sicher nicht geben. Es gibt zwar eine gemeinsame Erfahrung, aber es gibt keine Gemeinsamkeit und unterschiedliche Wahrnehmungen unter den „Festgästen“. An der Tafel würden sowieso nur Leute sitzen, die sich nicht verstehen, weil sie eine völlig unterschiedliche Sprache sprechen. Der Vorteil ist, niemand muss sich um ein Gastgeschenk kümmern. Eine „Festschrift“ (mit ein paar satirischen Anmerkungen) sollte im 10. „Jubeljahr“ dennoch nicht fehlen.

Hexachlorbenzol (HCB) gehört zu den gefährlichsten Industriechemikalien überhaupt. Es kann u.a. Krebs auslösen, aber auch die Leber und das Hormonsystem beeinflussen. Besonders gefährlich ist es auch deswegen, weil es persistent (langlebig, schwer abbaubar) ist und sich in Organismen anreichern kann. Eine länger dauernde Aufnahme von jeweils geringen Mengen kann dabei problematischer sein als eine einmalige hohe Aufnahme (Greenpeace).
Bild: Peter Baumgartner

10 Jahre vereint nun also das HCB-Desaster die Verursacher und die Geschädigten, nimmt man die legendäre Pressekonferenz von Landesrat Benger am 26. November 2014 als Maßstab. Wir haben eine „ernste Situation“, informierte Benger die Öffentlichkeit, um sofort mit der Standardformel zu relativieren: Gefahr für Konsumenten gab es zu keiner Zeit. Spätestens jetzt wusste jeder Journalist – Klappe halten, Hände falten! Blaukalk mit HCB verseucht wurde in Wietersdorf jedoch schon seit Juli 2012 verbrannt, ohne den gefährlichen Schadstoff in den Abgasen zu messen. Das heißt, was gespielt wird, wussten viele Leute bereits sehr viel früher, als am 26. November 2014. „Geringe Spuren“ von HCB wurden erstmals Ende März 2014 in Milchprodukten festgestellt. Was „gering“ ist, darüber wurde intern einige Zeit spekuliert. Es dauerte jedenfalls noch „ein paar Tage“, vom März bis November(!), bis man sich durchringen konnte, die Bevölkerung über die Gesundheitsgefahr zu informieren. Was dann folgte, wird je nach Sichtweise unterschiedlich beschrieben. Für manche ist das Desaster bis heute nur ein unnötiger Medienrummel. „Skandalberichterstattung“ nannte es Landeshauptmann Kaiser. Andere finden, die HCB-Kontamination ist wie die vorangegangene Asbestgeschichte, ein Anschlag auf die Gesundheit der gesamten Bevölkerung. „Medfluencer“ warfen ihre ganze Kompetenz in die Diskussion: gefährlich ist es schon, aber nicht so gefährlich – ihre vielsagende Expertise. Jedenfalls wurde über Monate massenhaft Milch, Fleisch und Futtermittel vernichtet und sogar ins Ausland zur Entsorgung verbracht – obwohl es „nicht so gefährlich“ war. Naja, ein paar Ausnahmen gab es schon. Zwar konnte man mit den Grenzwerten etwas „nachbessern“, aber ein paar kritische Problemchen blieben dennoch übrig. Die Fische in der Gurk zum Beispiel, die soll man auch heute noch nicht essen. Was aus der Sicht der Fischer eh egal ist. Ihnen geht es nur um den Fang – catch and release sozusagen. Zum Glück sind die Fische intelligent, bleiben brav in der verseuchten Gurk und schwimmen nicht in die Drau. Zumindest glaubt die Behörde das. Und die „paar Tausend Kilo“ Schadstoffe, die sonst noch weiterhin Stunde für Stunde im Tal verteilt werden, an die muss man sich halt anpassen. Neuerdings wird mit Erlaubnis des Landeshauptmannes auch „Zombie-Zement“ hergestellt (Zitat: Die genaue chemische Zusammensetzung des Compound-Materials unterliegt Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen). 18 Kg/a Quecksilber gehört auch zum Emissionsmix, aber von Minamata sind wir damit noch weit entfernt…

„Orte des Schreckens“ unterscheiden sich von „Lost Places“ dadurch, dass es keineswegs verlassene oder aufgegebene Ruinen sind. Ein „spannender Ausflug mit Gruselfaktor“ ist in jedem Fall garantiert. 8 Müll(Mit)Verbrennungsanlagen listet das Umweltbundesamt allein für Kärnten auf. Zusätzlich gibt es im Bezirk St. Veit/Glan noch 2 global tätige, chemische Industriewerke.

Parallel zur Gesundheitsfrage galt es nach dem Supergau 2014 auch die Verantwortlichkeiten für die „nicht gefährliche“ Situation aufzuklären. Ein Expertenbericht wurde dafür erstellt und sogar eine Untersuchungskommission einberufen. Die Ergebnisse kurz zusammengefasst: Ein Multiorganversagen hat stattgefunden, aber eigentlich hat eh jeder seinen Job nach bestem Wissen und Gewissen gemacht. Ein paar „Ungenauigkeiten“ bei den Zulassungen, behördlichen Kontrollen und betrieblichen Abläufen. „Schuld“ sind eigentlich nur die Konsumenten selbst. Wegen ihren Animositäten wurde eine öffentliche Inszenierung aus einer „ganz normalen“ Geschichte gemacht, die so jeden Tag passieren könnte. Nichts war wirklich kriminell. Gut, die paar kleinen Ausrutscher haben den Steuerzahlern immerhin einige Millionen gekostet. Aber im Vergleich mit der Schweiz, wo das investigative Medienunternehmen CORREKTIV, volkswirtschaftliche Kosten von 475 Mio. Franken für jedes Jahr durch die Zementindustrie errechnet hat, sind unsere (bekannten) HCB-Folgekosten Trinkgeld. Und ja, die Blutuntersuchungsergebnisse der Bevölkerung im Görtschitztal waren auch nicht so super. Sogar „signifikant höher“, urteile die Behörde vorlaut – aber sterben müssen wir eh alle irgendwann. Immerhin muss man mitbedenken, dass Kärnten gleichzeitig mit dem HCB-Desaster, auch noch die Hypo-Geschichte am Hals hatte. Da mussten vielleicht auch Prioritäten gesetzt werden. Gesundheit für die Bevölkerung oder Pleite des Bundeslandes? Eine schwierige Entscheidung. Die Auswirkungen des über Jahre andauernden Krisenmodus in der Landesregierung, haben die Leute geprägt – Beamten und Politiker kann nichts mehr erschüttern. Kärntner Beamte und Politiker stecken seither wie Marines alles locker weg. Sie sind quasi resilient gegen jede Art von Volksbewegung.

Folgerichtig kam die Landesregierung schon 2019, beim 5-jährigen Jubiläum, zum Schluss: Die Situation hat sich „weitgehend“ beruhigt. Eine Leserbriefschreiberin aus dem Görtschitztal muckte auf. Sie fand die Jubelmeldung der Landesregierung nicht so lustig. Als Betroffene beschäftigte sie noch immer, wie sie ihr belastetes Lammfleisch ruhigen Gewissens vermarkten soll. Den Blutbefund ihrer Kinder hatte sie vorsorglich in der Tischlade vergraben. Aus den Augen, aus dem Sinn… Für einen anderen Bio-Bauern – stellvertretend für viele im Tal, ist „nur“ eine Welt zusammengebrochen. Und für die Stammkundschaft der Görtschitztaler „Bio-Bauern“ hat #heimkaufen längst eine spezielle Bedeutung. Sie alle vereint, dass sie nicht im klimatisierten Büro sitzen, sondern auf einem Haufen Scheiße, der nicht so bald verschwinden wird. Ob die Situation dystopisch, oder „nur“ kakophonisch ist, darüber macht sich kaum jemand Gedanken. Die tägliche Arbeit und der Existenzkampf fordern zu 100 Prozent.

Jetzt – 2024, hat Kärnten das 10-jährige Jubiläum im „geheimnisvollen Tal“, wie das Görtschitztal schon werbewirksam genannt wurde, am Hals. Im Hochzeitsregister wäre das jetzt die Rosenhochzeit. Eine „dornige“ Zuschreibung, die ganz gut zur HCB-Geschichte passt. Gut möglich, dass die Landesregierung wieder einen Influencer mit einer „Frohbotschaft“ an die Öffentlichkeit schicken wird. Die unmittelbaren Verursacher des HCB-Desasters aus 2014 hätten auch allen Grund, die Sektkorken knallen zu lassen. Mit einem Gesamtumsatz von aktuell mehr als 1 Mrd. Euro, ist Wietersdorfer auf dem ersten Platz im Kärntner Ranking „Austria’s Leading Companies“ gelandet – mit den besten Aussichten auf einen Stockerlplatz im Österreich-Ranking. Eine stramme Leistung, an der die öffentliche Hand und der Steuerzahler wohl auch entscheidend mitgewirkt hat, denn der größte Bedarf an Zement- und Betonprodukten, dürfte wohl von öffentlichen Auftraggebern angemeldet werden. Zumindest bemüht sich die aktuelle Landesregierung, dass bis zum Ende der Wahlperiode jeder Bauernhof im Land einen eigenen Autobahnanschluss hat. Jüngstes Megaprojekt in den Auftragsbüchern, der Vollausbau des Karawankentunnels. Acht Kilometer betonieren. Da kommen schon ein „paar“ Kilogramm Zement zusammen. Das erinnert ein wenig an die freiwillige Knechtschaft.

Die Kärntner „Nachhaltigkeits-Koalition“ (2023-2028) hat mit der Einführung einer SDG-bzw. Wirkungsziel Ausweisung für alle Regierungssitzungsakte einen wichtigen Schritt in Richtung Nachhaltigkeit und Umweltschutz gesetzt. Die Entscheidungen auf allen Abteilungsebenen gehen in der Praxis allerdings noch sehr oft in die gegensätzliche Richtung.

Auch deshalb wird die Bevölkerung 2024 garantiert noch immer nicht feiern. Die amtlich verordnete „Ruhe im Tal!“ wirkt (fast) und wird befördert durch das mediale Schweigegelübde. Aber es ist, wie es ist. Das Zementwerk produziert mehr denn je, die gefährlichste Altlast (und ein paar neu entdeckte) liegen noch immer da, der Schwerverkehr ist stärker denn je und insgesamt ist und bleibt Mittelkärnten das Kärntner Ruhrgebiet. Aus Zementwerken kommt es unvermeidbar zum Ausstoß von unterschiedlichsten Schadstoffen, sagt das Umweltbundesamt. Viele Tausend Kilogramm/a, die permanent über den Kamin im Land verteilt werden, kennen wir. Vieles kennen wir nicht, weil es gar nicht gemessen wird. Und es wird nicht weniger. Dennoch gilt amtlich verordnet: „Jede Form der Nutzung (Landwirtschaft, Wirtschaft, Freizeit) im Görtschitztal ist ohne Einschränkung möglich“ – bis auf wenige Ausnahmen. Jüngste Bodenproben (Mai 2024) haben gezeigt, der HCB-Wert hat sich gebessert, ist aber immer noch da. Unmittelbar nach dem HCB-Desaster 2014, veröffentlichte DiePresse unter Berufung auf amtliche Daten, dass der Bezirk St. Veit an der Glan mit Abstand die höchste Krebsrate in Österreich hat. Beweise für einen Zusammenhang mit der HCB Geschichte konnte der Redakteur Andreas Wetz nicht finden – aber viele Fragen blieben für ihn offen. 2022 gab es extra eine Debatte zur Krebsstatistik im Kärntner Landtag. Die zuständige Landesrätin Prettner war offensichtlich bemüht, den Ball flach zu halten. Sie konnte aber mit der Behauptung, dass Kärnten nicht schlechter ist als andere Bundesländer, nicht überzeugen. Fakt ist, dass die Landesregierung aktuelle Krebsstatistiken für den Bezirk St. Veit an der Glan nicht frei geben will. Eine, per Gericht eingeforderte Freigabe, durch einen neugierigen Görtschitztaler, wurde schlicht abgewiesen. Es ist offensichtlich und vielfach erkennbar, die Kärntner Gesundheitspolitik folgt der Industriepolitik und ist in Wahrheit eine „Krankheitspolitik“. Nicht die Krankheitsursachen sollen bekämpft werden, sondern deren Folgen. Dafür, muss man aber sagen, werden keine Kosten und Mühen gescheut. Nicht umsonst ist die beste Krebsversorgung ausgerechnet in St. Veit an der Glan angesiedelt.

Umweltschützer aus Slowenien berichten im Görtschitztal von ihren Erfahrungen mit der Zementindustrie. Das Soča-Tal und das Görtschitztal haben viel gemeinsam: Eine einzigartige Landschaft und die „Luftqualität“.
Bild: Privat

Wirtschaft und Politik berufen sich Mantra artig immer auf die „Einhaltung der Grenzwerte“. Situationselastisch verordnete Grenzwerte werden nicht (oder nur fallweise) überschritten. Folglich – keine Gefahr für Mensch und Umwelt. Das Problem ist nur, für Vertrauen in die Politik und Behörden gibt es keinen Grenzwert. Deshalb müssen Grenzwertüberschreiter auch nichts fürchten. Im Gegenteil! Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Für betroffene Bürger heißt das Doppelmühle. Sie kommen aus dem Schlamassel nicht mehr raus. So eine Doppelmühle hat Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser schon mehrfach gebaut und macht sie beliebig auf oder zu. Jedes Mal, wenn er die Mühle schließt, ist ein Gesundheitsstein weniger am Spielfeld. Vor ein paar Wochen wurde bekannt, dass Kaiser in Slowenien bei den dortigen Parteifreunden für „seine“ Industrie interveniert hat. Slowenien erdreiste sich nämlich, die Umweltauflagen für die in Slowenien ansässige, Kärntner Zementindustrie, zu verschärfen. Die Kärntner drohten daraufhin mit wirtschaftlichen Konsequenzen. Kaiser bestreitet auf Nachfrage jede Intervention zugunsten der Industrie, gibt aber zu, in Slowenien über die Kärntner Zementindustrie „gesprochen“ zu haben. Das ist im politischen Austausch zwar nicht verboten, allerdings wurde inzwischen auch bekannt, dass in Slowenien bereits an der Abschwächung des verschärften Umweltgesetzes gearbeitet wird.

Geteiltes Leid ist halbes Leid. Erstmals trafen sich Mitglieder von Bürgerinitiativen aus Slowenien und Kärnten im Görtschitztal zum Gedankenaustausch. Bild: Peter Baumgartner

Anders als in Kärnten, ist die Zivilgesellschaft in Slowenien äußerst aktiv. Sowohl die NGOs, als auch in der Gesamtbevölkerung, sind Umweltinteressen stark verankert und der Umweltschutz wird massiv eingefordert. Anders als in Kärnten, ist auch die Jugend stark in regionalen Umweltangelegenheit aktiv. Für die Verschärfung der Umweltgesetzgebung in der Zementindustrie wurden zum Beispiel binnen kürzester Zeit 6000 Unterschriften gesammelt. Im Gemeindegebiet Kanal ob Soči, im Soča-Tal, wo auch das Zementwerk steht, vertritt der Bürgermeister Miha Stegel zu 100 Prozent die Gesundheit der Gemeindebürger. Stegel finanzierte auch aktiv die wissenschaftliche Untersuchung der örtlichen Luftverschmutzung, die für ganz Europa neue Erkenntnisse brachte. Sein Wahlspruch: Gesundheit vor finanziellem Nutzen. Ein Amtsverständnis, dass man in Kärnten nur ganz selten findet. Es bleibt der Bevölkerung also nichts anderes übrig, als selber den Job der Politiker/Beamten zu machen und sich selber um die Gesundheit zu kümmern. Neuerdings gibt es einen grenzüberschreitenden Gedankenaustausch zwischen Kärntner und Slowenischen Opfern der Zementindustrie. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Man wird sehen, was der wechselseitige Erfahrungsaustausch bis zum nächsten Jubiläum bringt.

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