#KINDERstören
Über die Krimi-Serie Tatort muss man nicht viel sagen. Jeder kennt sie, fast jeder hat einen Lieblingskommissar und für ganz viele Menschen ist der Sonnabend fix verplant – weil im Fernsehen Tatort läuft. 1970 hat der Fernsehmacher Gunther Witte die Serie erfunden. Sie ist somit die älteste Krimiserie. Wenn am Beginn der Sendung das Auge von Horst Lettenmeyer zur Zielscheibe und ein flüchtender Mann von Klaus Doldingers unverwechselbarer Erkennungsmelodie dramatisch begleitet wird, dann herrscht regelmäßig 90 Minuten Spannung auf dem Sofa.
In Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Man kann es sich lebhaft vorstellen, wenn jemand mehr als 50 Jahre mit einer derart vertrauten Sonntags-Zeremonie lebt und wie gewohnt voll Erwartung vor dem Fernseher sitzt, die Kennmelodie vielleicht mit summt – und dann erscheint plötzlich Carolin Kebekus am Bildschirm! Eine Komikerin statt Kommissar! Alarm! Was ist da passiert? Unabsichtlich falschen Knopf gedrückt? Störsender Putin? Schon die Augen waren diesmal ganz sicher nicht von Lettenmeyer. Und bunt blinkende Kinderschuhe auf der Flucht gab es noch nie. Sekunden lang wird nach der möglichen Ursache der „Störung“ gesucht. Doch es ist keine Störung. Es ist auch kein böser Scherz. Die vom Ersten meinen es ernst. Mehr noch, sie riskieren Kopf und Kragen, weil sie es wagen, den Tatort zu ändern und zu „stören“. Ganze 15 Minuten lang verzögert sich der Krimi-Start, weil Kebekus jetzt etwas mitteilen möchte. Die „unerhörte Grenzüberschreitung“ ist eine Zustandsbeschreibung der mangelhaften Kinderrechte in Deutschland und was sich jetzt alles im Kinderschutz ändern muss. Der Tatort wurde kurzzeitig zum „Tut(!)ort“. „Große Themen brauchen große Aufmerksamkeit“, sagt die ARD Programmdirektorin Christine Strobl. Der Initiator der Tatort- „Störung“, WDR Programmchef Jörg Schönenborn klärt auf: Kindern eine Stimme geben, auf ihre Probleme und Bedürfnisse aufmerksam machen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es geht ja schließlich um die künftige Generation. Dazu fühlt sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk verpflichtet – in Deutschland. In Österreich ist Vergleichbares undenkbar. Die „Primetime“ ist den US-Schrott Konserven vorbehalten und gerne auch in Wiederholung. Eine „gestohlene Viertelstunde“ wird von Kritikern als Guerillaaktion und unerlaubte Parteinahme bezeichnet. Dabei spielt es keine Rolle, dass sich die „Störung“ immerhin fast 6 Mio. Konsumenten angeschaut haben. Es spielt auch keine Rolle, dass die Verhältnisse in Deutschland mit denen in Österreich durchaus vergleichbar sind. Nur noch etwa ein Zehntel der Bevölkerung zählt zu den Jugendlichen. Damit haben wir einen historischen Tiefststand erreicht. Dennoch sind etwa 21 Prozent der bis 17 Jahre alten Kinder und Jugendlichen von Armut betroffen. Der aktuelle Jugendbericht der Bundesregierung ist ein Drehbuch für ein Trauerspiel und die aktuelle Liste der Forderungen, die von Jugendvertretern an die künftige Regierung gerichtet wurde, ist sehr lang. Man wundert sich, dass die zerzauste Generation mit den Loser-Politikern überhaupt noch reden will. Das wird wohl dem Mangel an Alternativen geschuldet sein. Der Versuch einer öffentlich-rechtlichen Medienanstalt in Deutschland, ein elementares Thema in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken, ist gelungen. Bleibt zu hoffen, dass es nachhaltig war.